Doktorand, Infarktforscher, Kickboxer und Weltmeister

Seit Jahren schon führt Michael Reinbold ein Doppelleben. Wenn der Doktorand der Marburger Philipps-Universität mal wieder mit einem blauen Auge im Institut für Pharmakologie und Toxikologie erschien, erzählte er seinem Professor, einem Hirnforscher, er habe „nebenbei ein bißchen geboxt“. Woraufhin ihm der besorgte Dozent regelmäßig per Zeichnung die Gefahren des Boxens für das menschliche Gehirn veranschaulichte. „Mein Professor weiß gar nicht, wie intensiv ich den Sport eigentlich betrieben habe“, sagt Reinbold.Alle anderen Mitarbeiter am Institut wußten, daß der approbierte Apotheker den Kittel außerhalb der Universität gegen Handschuhe und Kopfschutz eintauschte. So entging dem Professor, daß er im Labor mit dem Welt- und Europameister im Leichtkontakt-Kickboxen zusammenarbeitete. Im nächsten Jahr will Reinbold die Universität als Doktor der Pharmazie verlassen. Spätestens dann will er auch den ahnungslosen Professor einweihen. „Wenn er es jetzt erfährt, ist es mir egal“, sagt Reinbold.„Ich habe alles gesehen“Der 28 Jahre alte Reinbold hat gerade seinen Rücktritt vom aktiven Wettkampfgeschehen verkündet. „Ich habe alles gesehen, der Weltmeistertitel war der krönende Abschluß“, sagt er. In seiner Trainingsstätte, dem Shotokan-Club in Butzbach, jubelt er noch immer auf Bildern an der Wand vom Turnier in Ungarn im vergangenen November. „Unser Weltmeister“ steht darunter. Nur noch zum Training der Heranwachsenden und zum Sparring kommt Reinbold von Marburg nach Butzbach. Vier Sparringspartner fordern ihn dann abwechselnd auf der Matte. „Wir können ihn technisch fordern, konditionell nicht“, sagt Betriebswirt Uli Günther, einer der Kickboxer aus der Ü40-Gruppe.Michael Reinbold ist bescheiden geblieben. Trotz seiner Erfolge im und außerhalb des Sports. „Weltmeister hört sich toll an, aber im Grunde habe ich nur ein paar Gegner geschlagen. Darauf soll man sich nicht zu viel einbilden“, sagt Reinbold. Späte Genugtuung verspürt der Rußlanddeutsche nicht. Obwohl ihm früher in der Schule ständig gesagt worden sei, „aus dir wird nie etwas“. Als Michael zwölf Jahre alt war, siedelte Familie Reinbold von Moldawien ins hessische Örtchen Schotten um. „Erst war ich der dumme Deutsche, dann plötzlich der blöde Russe. Ich war ein Außenseiter“, erinnert sich Reinbold.Von der Hauptschule aus nach oben geboxt Er landete zunächst auf der Hauptschule, kämpfte sich über die Realschule bis zum Abitur durch. „Obwohl mir nie ein Lehrer geholfen hat, die haben mich für blöd gehalten. Erst auf dem Gymnasium bin ich aufgeblüht.“ Gleichzeitig begann Reinbold mit dem Kampfsport. Ein Freund hatte ihn zum Kung-Fu mitgenommen. „Dort habe ich leider fünf Jahre meiner Trainingszeit vergeudet. Denn eines lernt man dort nicht: das Kämpfen“, erzählt Reinbold. Diese schmerzhafte Erfahrung machte er, als er in einem Fitness-Studio in Butzbach „alte Herren“ beim Sparring im Kickboxen herausforderte. „Da habe ich, großer Kung-Fu-Kämpfer, überhaupt kein Land gesehen. Das war mehr irgendein Gewusel.“ Reinbold schloß sich fortan den Kickboxern an, mit derselben Gruppe trainiert er noch heute.Reinbold ist ein Beispiel für gelungene Integration. Der Sport habe dazu allerdings nicht beigetragen. „Der Sport ist Spaß, mehr nicht. Die Sprache ist das wichtige.“ Auch auf der Matte ist der Marburger ein Selfmademan. „Es gab nie einen Trainer, der mir alles beigebracht hat. Ich habe Techniken selber vorm Spiegel verfeinert, bin überall hingefahren für einen anständigen Sparringspartner.“ Wie erlöst fühlt sich Reinbold heute, nach seinem Rücktritt. „Diesen Zwang brauche ich einfach nicht mehr“, erzählt er. Bundestrainer Peter Zaar bescheinigte ihm zum Abschied, er sei nie der talentierteste Kickboxer gewesen, aber der variabelste, er habe sich immer dem Gegner entsprechend eingestellt.Sein Thema ist GefäßverkalkungEine Karriere als Profisportler ist Reinbold nicht in den Sinn gekommen. Obwohl sein früherer Kollege aus der Nationalmannschaft Muamer Hukic mittlerweile unter dem Namen Marco Huck erfolgreich als Berufsboxer in den Ring steigt. „Aber wie lange kann man das machen?“ fragt Reinbold. „Mir war schon immer klar, daß ich mit dem Kopf arbeite.“ Ohnehin sei Huck härter, schon als Kickboxer trat der junge Serbe im Vollkontakt an. „Das ist ein Gemetzel, das muß nicht sein. Schon beim Leichtkontakt wird international draufgedroschen, was geht“, sagt Reinbold.Nun widmet er sich ganz seiner Doktorarbeit. Sein Thema ist Gefäßverkalkung, „im Laiendeutsch ausgedrückt“. Mit seinem Professor zusammen formulierte Reinbold die „Marburger Hypothese“, die in der Forschung für Aufsehen sorgte. Das Herz werde bei einem Infarkt Opfer seines eigenen Energiebedarfs, heißt es dort. Eine Hypothese, warum Reinbold in den vergangenen Jahren wiederholt mit einem blauen Auge an der Universität erschienen ist, stellte in Marburg bislang jedoch niemand auf.Text: F.A.Z. vom 4. Mai 2006 Bildmaterial: Uni Marburg/Homepage Institut für Pharmakologie und Toxikologie